Josef Munzinger – über einen politischen Gestalter und seinen Einfluss auf unsere Kultur

von Remo Ankli

Am 31. Januar 1855 brach Josef Munzinger während einer Bundesratssitzung zusammen. Eine Woche später war er tot. Bereits seine letzten Lebensjahre waren von gesundheitlichen Schwierigkeiten überschattet gewesen. Dies war das Ende eines Ausnahmepolitikers, der in seinem Heimatkanton während 15 Jahren über enormen Einfluss verfügte und nach seiner Wahl in den Bundesrat den jungen Bundesstaat mitgestaltete.

(Nur eine kleine Klammerbemerkung aus Anlass der jüngsten Bundesratswahlen, bei denen wieder einmal niemand aus den beiden Basel gewählt wurde: Als Nachfolger von Josef Munzinger wurde im Juli 1855 Johann Jakob Stehlin, ein Mitglied des Basler „Daig“, in den Bundesrat gewählt. Dieser lehnte nach kurzer Bedenkfrist ab – mit den Worten: „Jo, wisse Si, mir sinn halt nit so ambiziees.“)

In der Geschichtsschreibung Deutschlands gibt es den Ausdruck „Gründerzeit“. Gemeint ist damit die Wirtschaftsgeschichte nach der Gründung des deutschen Reiches 1871, und diese Zeit war von der Industrialisierung geprägt.

Auf die Schweiz bezogen wäre die Gründerzeit die Periode von zwei Jahrzehnten nach der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848. In diesen Jahren gab es eine rasante gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Der Motor war der Eisenbahnbau. In dieser dynamischen Zeit brauchte es Politiker mit Visionen, die über politische Gestaltungskraft verfügten. Josef Munzinger war ein solcher Politiker (ein anderer war Alfred Escher).

Josef Munzinger ist wirklich eine beeindruckende Persönlichkeit. Seine Biografie, insbesondere natürlich die politische, zu studieren, ist ein lohnenswertes Unterfangen. Ich nennen hier nur stichwortartig einige Stationen: Kaufmannssohn, selber Kaufmann, politischer Flüchtling, Oltner Gemeindeschreiber, Redner auf der Rösslitreppe, Kantonsrat, Regierungsrat, Langzeit-Landammann, permanenter Abgeordneter an der Eidgenössischen Tagsatzung, praktizierender Katholik, eidgenössischer Kommissär, Ständerat und schliesslich Bundesrat.

Als Bundesrat leitete Josef Munzinger verschiedene Departemente. In seiner ersten Amtszeit vor allem das Finanzdepartement. Als Munzinger sein Amt angetreten hat, wurde in der Schweiz noch mit Dublonen, Dukaten, Kreuzer, Heller, Blutzger und anderen Währungen bezahlt. Dieser Wildwuchs rief nach einer Währungsreform. Dank seiner immensen Schaffenskraft gelang es Finanzminister Munzinger, eine eidgenössische Währung zu schaffen – vor allem in der Ostschweiz wehrte man sich gegen die neue Währung. Und dies ohne ausgebaute Bundesverwaltung. So darf man sicher behaupten, dass Munzinger als Schöpfer des Schweizer Frankens in die Geschichte des Bundesstaates eingegangen ist.

Ja, es ist unbestritten: Josef Munzinger war ein politischer Gestalter und hat Spuren hinterlassen.

Liebe Freisinnige und Gäste, kehren wir für einen Moment zur Rösslitreppe in Balsthal zurück. Die Juli-Revolutionen in Paris und die Machtübernahme durch das Bürgertum hatten auch in der Schweiz Auswirkungen. Freiheitliche, gegen das Patriziat gerichtete Bewegungen bekamen Auftrieb. Im Kanton Solothurn machte sich bei der Bevölkerung ausserhalb der Stadt Solothurn der Wille durch, sich nicht länger von der Obrigkeit am Leitseil führen zu lassen.

Der Oltner Aktivist Josef Munzinger reichte mit seinen Getreuen beim Regierungsrat eine Petition für mehr Mitsprache ein. Doch diese Forderungen sind beim Regierungsrat auf wenig Resonanz gestossen. Ein Verfassungsentwurf, der vorbereitet wurde, ging nur ansatzweise auf die Anliegen der Landbevölkerung ein. Da griff Munzinger zu drastischeren Mitteln: Er bot die Landbevölkerung nach Balsthal zu einer Demonstration auf.

Und hier, auf dem Platz vor dem Rössli, hat Munzinger vor 2500 Personen den berühmten Satz gesagt: „Die Souveränität des Volkes soll ohne Rückhalt ausgesprochen werden!“

Die eindrückliche Demonstration zeitigte den gewünschten Erfolg: Am 29. Dezember 1830 revidierte der Grosse Rat den Verfassungsentwurf im Sinne Munzingers und seiner Anhänger und legte ihn am 13. Jänner 1831 dem Volk zur Abstimmung vor, das ihn mit fast 90 Prozent der Stimmen annahm.

„Die Souveränität des Volkes soll ohne Rückhalt ausgesprochen werden!“ Doch soll der historischen Wahrheit genüge getan werden: Mit dieser Volkssouveränität war nicht die Direkte Demokratie gemeint, wie sie später in den Kantonen und auch im Bundesstaat eingerichtet wurden. Es handelte sich vielmehr um ein repräsentatives System. In der ersten Verfassung von 1831 heisst es denn auch: „Die höchste Gewalt des Kantons Solothurn geht von dem Volke aus; sie wird aber nur durch seine Stellvertreter ausgeübt.“ Die Mitsprachemöglichkeiten des Volkes wurden dann bis Ende des 19. Jahrhunderts in 6 Total- und 3 grossen Teilrevisionen schrittweise ausgebaut.

Mehrere Gründe waren es, die für das Festhalten am Repräsentativen System sprachen: Die Angst vor einem konservativen Umsturz, die Identifikation des Staates mit der liberalen Partei und vor allem auch die grossen Aufgaben, die bei der Neuordnung des Staates zu erledigen waren.

Die Leistung der Regierung Munzinger und von Munzinger selber war die Methode, wie diese grossen Aufgaben erledigt wurden. So wurden überholte Privilegien abgeschafft, der Ausgleich zwischen Stadt und Land vorangetrieben und die Rechtsgleichheit und die Sicherheit der Bürger garantiert.

Munzinger hat dies mit Tatkraft angepackt, aber immer auch mit Augenmass, und er war stets auf Ausgleich bedacht. Auch in den damals heiss diskutierten konfessionspolitischen Fragen zeigte sich das. Später als Bundesrat bemühte er sich, die im Sonderbundskrieg unterlegenen Katholisch-Konservativen mit den Siegern zu versöhnen.

Bundesrat Hans-Ruedi Merz hat 2005 aus Anlass der 175-Jahr-Feier des Basthaler Volkstages in der Stadtkirche Olten gesprochen. In seiner Rede hat er das Augenmass und die Umsicht, mit der Munzinger vorging, so umschrieben:

„Wer zuviel will, wer sich zuviel zumutet, wer zuviel verspricht, wer auf zuviel verzichtet, kurz wer das Mass nicht findet, scheitert. (…) Munzinger (…) hat es während seiner ganzen Laufbahn – sei es als Stadtschreiber, als Landammann, als Tagsatzungsabgeordneter oder als Bundesrat – immer wieder geschafft, das Machbare anzusteuern und umzusetzen.“

Ein kluger Kopf hat einmal gesagt: „Die Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn als Farce.“ Vielleicht könnte man den heutigen Tag auf diese Weise beschreiben. Vor 188 Jahren ist das Volk aus allen Teilen unseres Kantons nach Balsthal gekommen, um auszudrücken, dass es mit der Herrschaft der Patrizier in Solothurn so nicht weitergehe. Und heute spazieren einige Politiker von Balsthal nach Solothurn – also von Balsthal weg, in die verkehrte Richtung.

Also, die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es ist nicht verboten, aus ihr etwas zu lernen. Was Josef Munzinger anbelangt, möchte ich drei Eigenschaften nennen: Seine grundsätzlich optimistische Einstellung, seine politische Tatkraft und das Augenmass, mit dem er das politische Geschäft angegangen ist.

Und das ist es, was wir von Munzinger lernen können. Diese Woche hat die Regierung die Vorlage vorgestellt, wie die Reform der Unternehmenssteuern umgesetzt werden soll. Jetzt kann man in dieser Umsetzung natürlich immer nur die Risiken und die Gefahr sehen. Oder aber man orientiert sich an der Gründerzeit und will die Zukunft unseres Kantons aktiv und positiv gestalten.

So werden wir Solothurnerinnen und Solothurner in den kommenden Wochen die Frage beantworten müssen, ob wir in Zukunft noch ein Produktionsstandort für die Industrie sein wollen oder nicht.

Ich bin überzeugt, dass unser Kanton gestärkt aus dieser Reform hervorgehen wird – wenn wir die Chance denn auch packen und gemeinsam umsetzen. Und zwar im Geist von Josef Munzinger: mit einem gesunden Optimismus, tatkräftig und mit Augenmass.

Mit einem Wort von Mani Matter möchte ich schliessen:

„was unsere väter schufen

war

da sie es schufen neu

bleiben wir später

den vätern

treu

schaffen wir neu“